Kunstprojekt under construction

Laura Riese - weiter reichen
Laura Riese – weiter reichen
Schafe
Alexander Muelhens – Herde sein?
Marius Wagner, "Sündenabfall"
Marius Wagner, „Sündenabfall“
Rebecca Korek, "Privatrausch"
Rebecca Korek, „Privatrausch“

 

Artikel für die Stadtteilzeitschrift Forum Wesertor von Bernhard Balkenhol (1.12.2015):

„under construction“ – die Neue Brüderkirche als „Baustelle“

Wie kann man Kunst besser lernen als durch selber machen und dabei sein? Das haben sich Studierende der Kunsthochschule Kassel gedacht, die an dem Seminar „under construction“, geleitet von Bernhard Balkenhol, teilgenommen hatten. „Baustelle“ war ihnen zunächst der eigene Körper, d.h. die Beobachtung und Hinterfragung der Selbstwahrnehmung des eigenen Handelns. Welche Formen findet der Körper mit all seinen Bewegungsmöglichkeiten, welchen Sinn machen sie und welches Modell von „richtigem Handeln“ formulieren sie? Und aus der Außensicht: Welche Formen transportieren welche Gefühle, Gedanken, Fragen, Vorstellungen, Wünsche? Wie und warum lassen sie sich lesen? Schließlich: wann wird eine solche Formulierung „Kunst“?

Ort dieser Auseinandersetzung war zunächst der eigene „Kopf und Bauch“, dann das eigene Handeln, zunächst für sich dann mit Anderen. In einem Workshop-Besuch bei Tango Querido, Schule für TangoTanz&TangoKultur, konnten sie erleben, wie der Tanz Selbstwahrnehmung und Auftreten durch „geführtes“ Handeln in Selbstbewusstsein verwandeln kann. Der Besuch in der Neuen Brüderkirche schließlich machte die Studierenden sensibel für eine metaphysische Welt, metaphorische Formen und den symbolischen Raum. Hier stellte sich die Grundfrage: Wie kann es neben dem tatsächlichen Ort z.B., gleichzeitig einen „übersinnlichen“, einen Gedankenraum geben? Wie kann „Kunst“ neben dem Faktischen ein Stellvertreterraum sein für Modelle von Körper, Wahrnehmung und Gefühl, Denken und Handeln, von Ansichten von und über die Welt?

Nur Erfahren und Reflektieren aber war den Studierenden zu wenig, sie beschlossen, mit ihrem Studium an die Öffentlichkeit zu gehen. Dieser Mut wurde belohnt. Pfarrer Stefan Nadolny reagierte nicht nur offen sondern begeistert und engagiert, als einige der Studierenden das Seminar „under construction“, ihre “Baustellen“ also, in die neue Brüderkirche verlegen wollten.

Vor Orte ergaben sich in der Entwicklung und Diskussion der Vorhaben und der konkreten Vorbereitung intensive Gespräche, die alle dankbar nutzten, mit der Folge, dass sich als übergreifendes Thema ganz ortsspezifisch die Reflexion von alltäglichem und künstlerischem Handeln, von symbolischem und ritualisiertem Verhalten in den Vordergrund schob. Ganz profan aber genauso wichtig: Es gab sehr viel zu lernen, Organisatorisches, Technisches und Gestalterisches, nicht zuletzt Öffentlichkeitsarbeit und öffentliches Gespräch über die eigene Arbeit, ohne das Kunst nicht „Kunst“ wird und ist.

Laura Riese hatte für ihre Aufführung von „weiter reichen“ die Stühle durch Feldbetten ersetzt. Immer 20 Personen konnten sich dort niederlegen. Zu hören war das agnus dei aus dem Requiem von Krzystof Penderecki. Sie hatte die Musik digital bearbeitet und auf 6 Lautsprecher um die Liegenden verteilt, so dass sich der Raum akustisch erweiterte. Nach oben hin öffnete sich die Architektur, nachdem sich die Augen an die Dunkelheit im Kirchenraum gewöhnt hatten. Lichtstreifen beleuchteten die Deckenkonstruktion und machten das eingezogene Tuch transparent. Ein endloser „Himmel“ öffnete sich und versetzte die Zuhörer in einen Schwebezustand.

Alex Mühlens nahm eine Woche später das Motiv des „agnus die“ in seiner Installation „Herde sein“ wörtlich und lies eine Gruppe von Schafen in den Kirchenraum treiben. Er wollte die Metaphern überprüfen, die die Schafsherde und das Lamm in religiösem Kontext gebildet haben. „Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war.“ Lukas 15, 1-7. Solche Bibel-Zitate und andere aus profanen Quellen wie das Spanische Sprichwort „Wer sich zum Schafe macht, den fressen die Wölfe“, hatte er rechts und links neben den Altar projiziert. Über Lautsprecher war der Schafshirte zu hören, der erzählte, wie sich Schafe verhalten und was sie in seinen Augen sind. Die realen Tiere im Gatter in der Kirche und drum herum sich selbst als „Gemeinde“ zu erleben, den Tieren in die Augen zu sehen und im Hinterkopf all die Bilder zu haben, die aus diesem Tier ein Sinnbild machen, war ein seltsames und besonderes Erlebnis.

Seit einiger Zeit ist das zentrale Kreuz über dem Altar durch einen Teppich aus über 30 000 Knöpfen verhängt, Lilian von Philippovichs „Sammlerstück, made in germany“(2011). Marius Wagner hat es entdeckt und in seiner Performance „Sündenabfall“ wieder für einen kurzen Moment sichtbar gemacht.  Er schob ein großes Rollgerüst davor, lies es vorsichtig abnehmen und wie den Seitenflügel eines Altarbildes „aufklappen“. Dann stieg er auf eine Leiter und unterzog das Kreuz einer sorgfältigen „Waschung“. Viele Bilder blühten bei diesem profanen Vorgang auf, von der Kreuzabnahme, über die Waschung des Leichnams Christi, bis zu den symbolischen Fußwaschungen Christi, Bilder von Fürsorge und Barmherzigkeit, aber auch vielleicht vom Aufbau, vom Rausputzen der Kulissen für eine große Show. „Das Waschen des Körpers ist die Reinigung des Menschen von der Welt – oder der Sünden?“ schreibt er in seiner Ankündigung. Nach getaner Arbeit wurde das Gerüst wieder vor das Kreuz gerollt, der Teppich wieder an der vorherigen Stelle aufgehängt. Das Ereignis war weggewischt wie der Staub auf dem Holzkreuz.

In der folgenden Woche war die linke Hälfte der Stühle in der Kirche beiseite geräumt und an ihrer Stelle mit Kreppband der Grundriss eines Zimmers samt Einrichtung auf den Boden geklebt. Rebecca Korek hatte ihr privates Zuhause in den Kirchenraum übertragen.  Alltagsgeräusche erfüllten aus den vier Ecken als Collage eines Tagesablaufs den Kirchenraum. Auf dem Altar hatte sie ihren Schreibtisch eingerichtet, eine Kerze durch ihre Schreibtischlampe ersetzt und neben das Kreuz einen digitalen Bilderrahmen aufgestellt, der eine Vielzahl sehr subjektiver Blicke in ihr Zimmer gestatte. Während sich die „Kirchgänger“ umsahen, in ihren Aufzeichnungen aus Vorlesungen und Seminaren blätterten, verklebte sie Streifen von Kreppband im Raum, auf die sie seelenruhig in einem „Privatrausch“, so der Titel ihrer Performance, jeweils ihre augenblicklichen Gedanke und Gefühle notierte. Neugierig und teilweise amüsiert wurde sie von den Besuchern verfolgt.

„Es war für mich faszinierend zu sehen, wie intensiv und individuell völlig unterschiedlich sich die KünsterInnen mit dem Raum auseinandergesetzt haben“, meinte Pfarrer Stefan Nadolny an Ende. Und es war für die Studierenden ein ungewöhnliches Erlebnis, so angenommen zu sein in ihrer künstlerischen Arbeit.

 

27.10.2015

Pressemitteilung von Bernhard Balkenhol, Kunsthochschule Kassel

under construction, 6 Performances an zwei Orten

Wenn Kunst nicht mehr im vollendeten Werk endet, sondern bereits vorher anfängt, im Prozess des Werdens, dann steht die Methode Kunst gleichberechtigt neben der künstlerischen Arbeit an Inhalten, Aussagen und Wirkungen, an der Behauptung von Bedeutung. Künstlerisches Arbeiten ist dann Ereignis und Aufführung, das Objekt geht in der Performance auf. Und die Kunst endet in einem Modell von Wahrnehmen, Denken und Handeln.

Unter dieser Prämisse haben Studierende der Kunsthochschule Kassel in einem Seminar von Bernhard Balkenhol Performances entwickelt, die im November/Dezember in der Neuen Brüderkirche Kassel und Tango Querido – Schule für TangoTanz & TangoKultur zu sehen sein werden. Diese beiden Orte mit ihrem spezifischen Charakter und Kontext waren unter Anderem Gegenstand der Reflexion von alltäglichem und symbolischem Handeln, von künstlerischem und ritualisiertem Verhalten, von Untersuchungen und Erprobungen performativer Möglichkeiten, und wurden so zu Aufführungsorten.

Dienstag, 3. November, 18 Uhr, Neue Brüderkirche, Kassel, Weserstr. 26: Laura Riese mit „weiter reichen“

Freitag, 13. November, 18 Uhr, Neue Brüderkirche, Kassel, Weserstr. 26: Alex Mühlens mit „Herde sein?“

Montag, 16. November, 18 Uhr, Neue Brüderkirche, Kassel, Weserstr. 26: Marius Wagner mit „Sündenabfall“

Donnerstag, 26. November, 18 Uhr, Neue Brüderkirche, Kassel, Weserstr. 26: Rebecca Korek mit „Privatrausch“

Donnerstag, 3. Dezember, 20 Uhr, Tango Querido – Schule für TangoTanz & TangoKultur, Kassel, Sickingenstr. 10: Anna Mattern mit „Gestalten“ und Bahiyyeh Panahl mit „versteckt oder nicht“

 

Laura Riese dekonstruiert verschiedene Versionen des agnus dei und versucht, begleitet von einer Lichtinszenierung, dem Kirchenraum eine neue Aura zu geben. Alex Mühlens wird eine Herde Schafe in den Kirchenraum treiben, um die Metaphern zu überprüfen, die die Schafsherde und das Lamm in religiösem Kontext gebildet haben. Marius Wagner wird das große Tuch „Sammlerstück, made in germany“(2011) mit den über 30 000 Knöpfen von Lilian von Philippovich über dem Altar abnehmen, um das Kreuz, das sich dahinter verbirgt, einer „Waschung“ zu unterziehen. Rebecca Korek trägt über Alltagsgeräusche und Bilder ihr privates Zuhause in den Kirchenraum. Anna Mattern stellt über Bewegungen und Bekleidung die Lesbarkeit ihres Körpers in Frage und Bahiyyeh Panahl fragt in einer Videoperformance: Wo bin ich, wenn mich niemand sieht?

under construction

Herzlich Willkommen in der Erlöserkirche Fasanenhof und in der Neuen Brüderkirche!