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Online-Kurzpredigt zum Sonntag Kantate

Liebe Gemeinde,

wie gerne würden wir heute zusammen sein und Gottesdienst feiern – und könnten es sogar. Allerdings gäbe es da auch einen Wehrmutstropfen: Am Sonntag Kantate geht es um das gemeinsame Singen – und das dürfen wir ja gerade nicht. Und zwar aus guten Gründen: Beim Singen atmen wir mehr, bewegen mehr Luft – darum geht es ja an Kantate, dass alles ins Schwingen kommt, dass wir atmen, leben, den Atem befreien, die Seele befreien (Atem, Leben und Seele sind im Hebräischen das selbe Wort, näfäsch).

Schade, dass das nicht geht. Und doch gut, erstmal zu verzichten.

Und da ist vieles, was aus guten Gründen nicht geht, aber doch gut wäre. Und anderes geht jetzt wieder. Denn auf die Dauer wird es schwierig: In den Familien mit kleinen Kindern wird es langsam anstrengend, und viele Betriebe haben keine Einnahmen. Das lässt sich nicht ewig durchhalten, da kommt der Staat auch mit Hilfen nicht hinterher. Jetzt wird wieder einiges geöffnet, aber wir wissen nicht, was dabei rauskommt. Wann kommt die nächste Welle?

Mich beschäftigen immer wieder die Widersprüchlichkeiten: In den Supermärkten drängeln sich die Leute zeitweise – aber wenn sich sechs Personen in der Aue mit Abstand treffen, gibt es eine Strafe. Das ist nicht wirklich logisch, entspricht aber den Bestimmungen. Natürlich geht es darum, sich jetzt einfach mal an die Bestimmungen zu halten. Und natürlich, die Widersprüchlichkeiten so gering wie möglich zu halten. Aber sie werden sich nie ganz vermeiden lassen.

Vor allem: Man kann es mit den Bestimmungen gar nicht ganz richtig machen! Auch die Politiker können das nicht, alles richtig machen! Zu früh öffnen führt zu mehr Todesfällen, zu wenig öffnen zu mehr Stress und wirtschaftlichem Zusammenbruch.

Mich erinnert das an einen Satz, den Martin Luther seinem Kollegen Melanchton schrieb, als der mit einigen Entscheidungen ziemlich überfordert war: „Sündige tapfer!“ Erstaunlich, dieser Ratschlag! Und das von einem Pfarrer! Aber natürlich macht er Sinn. Nur Mut! Du wirst nicht alles richtig machen, aber das ist auch nicht schlimm! Du wirst es tragen können, dass du Fehler machen wirst!

Unser Leben ist gar nicht möglich, ohne dass wir auch Fehler machen. Das ist eine sehr alte Erkenntnis – kleiner Exkurs: Indianer bitten die Tiere um Vergebung, bevor sie sie töten, um sie zu essen. Und das Wissen um die eigene Schuld ist auch der Kern vieler religiöser Rituale, z.B. der Opfer. Wir lehnen sie ab, aber durch die Lösung des Schlachtens aus dem religiösen Zusammenhang ist den Tieren kein Leid erspart worden, im Gegenteil. Die Israeliten schickten am Jom Kippur den Sündenbock in die Wüste, und auch im Abendmahl ist Schuld und Vergebung Thema. Wir wissen darum, dass wir Fehler machen und schuldige werden, und müssen irgendeinen Weg finden, damit umzugehen.

Martin Luther hatte im Kloster den Versuch gemacht, ohne Fehler zu leben – und war damit gescheitert wie schon Paulus als Pharisäer. Und so erkannte Martin Luther die Erkenntnis des Paulus als seine Rettung: In Christus sind wir gerechtfertigt! Wir brauchen nicht fehlerfrei zu leben, um von Gott anerkannt zu sein, und könnten es auch gar nicht.

Das ist etwas paradox. Aber gerade das brauchen wir in diesen Zeiten: Dass wir die Ambivalenzen aushalten können, die Ungereimtheiten und scheinbaren Widersprüche. Dass wir damit leben können, dass alles nicht so ist wie es sein sollte. Und dass wir auch vergeben können. Damit man sich nicht zerfleischt angesichts der schwieriger werdenden Situation.

Das wünsche ich uns allen, und insbesondere auch unseren Politikern. Ich finde, bisher ist es doch ganz gut gelungen. Und ich hoffe, dass es gelingen kann, was von Anfang an das Motto war: Zusammen durch die Krise! #Leavenoonebehind!

Amen.

Online-Predigt Corona und „Das Erdbeben in Chili“

Liebe Online-Gemeinde,

Solidarität in der Sondersituation

die Krise hat ja nicht nur Nachteile, sondern es gibt auch Positives zu bemerken. Ich habe den Eindruck, dass viele Leute im Moment aufmerksamer sind bezüglich den Nöten anderer, und hilfsbereiter.

Neulich habe ich ein paar Sachen eingekauft, und auf dem Weg nach Hause ist mir die Papiertüte gerissen. Sofort kamen zwei Jugendliche und halfen mir einsammeln, und da ich ja jetzt keine Tüte mehr hatte, machten sie eine von ihren Einkaufstüten frei und packten mir meine Sachen in diese, bevor sie zu ihrer Bahn liefen, die sie gerade noch erreichten.

Schön, das zu erleben! Naja, mag sein es würde immer jemand helfen, aber ich habe es jedenfalls besonders dankbar wahrgenommen.

Und ja, die Krise verändert was. Überall entstehen solidarische Initiativen. Nachbarn bieten ihre Hilfe an und kaufen für die Älteren ein, viele fragen nach, viele nähen Masken, und für unsere Lebensmittelverteilung haben sich so viele Freiwillige gefunden wie nie – natürlich weil viele im Moment mehr Zeit haben, aber auch weil das Bewusstsein da ist, dass Hilfe gebraucht wird.

Hoffnung auf Veränderungen durch Corona – dass Solidarität bleibt

Immer mal wieder hört man in diesen Tagen von der Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderungen durch das Covid-19-Virus. Dass die Menschen ja jetzt merken, dass Solidarität wichtig ist, und dass es schön und wichtig wäre, wenn diese Stimmung über die Krise hinaus bleiben würde. Unter anderem der Bundespräsident hat diese Hoffnung in seiner Ansprache vor Ostern zum Ausdruck gebracht.

Ich teile diese Hoffnung. Wir brauchen mehr Solidarität. Natürlich mit allen! Da gibt es eine Petition, #Leavenoonebehind, lasst niemand zurück, die sehr viele Unterstützer gefunden hat: Retten wir nicht nur die Firmen, nicht nur die Arbeitnehmer, sondern auch die nicht Arbeitenden und auch die Geflüchteten in großen Lagern – denken wir an alle.

Ich teile diese Hoffnung – und gleichzeitig erinnert mich diese besondere Stimmung an eine Geschichte über eine Katastrophensituation, die Erzählung „Das Erdbeben von Chili“ von Heinrich von Kleist.

Das Erdbeben in Chili

Er erzählt von einem Liebespaar gegen alle Konventionen um 1800 in Santiago de Chile. Sie, Josephe, wird unverheiratet schwanger, wird im Kloster eingesperrt und soll hingerichtet werden, er, Jerome, kommt ins Gefängnis und will sich erhängen.

Dann gibt es aber ein Erdbeben, Jerome kommt frei, sucht sie und findet die Geliebte in einem lieblichen Tal außerhalb der Stadt, mit dem Kind, das sie inzwischen geboren hat. Eine Familie, die auch dorthin geflohen ist, lädt die drei am Morgen zum Frühstück ein. Alle Standesunterschiede sind verschwunden, es ist paradiesisch dort draußen. In dieser Stimmung entschließen die beiden, beim Vizekönig ein Gnadengesuch einzureichen.

Alle gehen in die Stadt zurück, wo ein Dankgottesdienst gefeiert werden soll. Der Prediger deutet das Erdbeben als Strafe Gottes für die Sittenverderbnis in der Stadt, und benennt Josephe und Jerome als die Schuldigen. Ein Mob lyncht die beiden. Ein befreundetes Paar, dessen Kind auch getötet wird, nimmt den Sohn von Josephe und Jerome als Ziehsohn an.

Eine Unterbrechung für kurze Zeit

Nun – mit der Katastrophe fallen nicht nur die Häuser, sondern auch die Standesunterschiede und manche starre Regeln. Aber nur für kurze Zeit, danach ist alles wie immer und noch schlimmer.

Also keine Hoffnung in Sicht? Nur ein kurzes Aufblitzen des Paradieses, draußen im Tal, und alles bleibt beim Alten?

Das ist die realistische Sichtweise des Heinrich von Kleist. Auch eine französische Revolution bringt doch keinen echten Wandel.

Wie wird es also mit Corona sein, und mit der Solidarität, die sich in der Katastrophe zeigt?

Nur ein kurzes Aufblitzen, und dann alles noch viel schlimmer?

Ein solches Aufblitzen und ein enttäuschender Ausgang sind eine Grunderfahrung des Christentums: Jesus kommt, und plötzlich manches anders. Menschen wird geholfen, Unterschiede relativieren sich, Gemeinschaft entsteht: Speisung der 5000 draußen in der Natur wie das Frühstück im lieblichen Tal. Aber das bleibt nicht, Jesus wird gekreuzigt, die Jünger sind verzweifelt.

Hoffnung auf mehr

Aber dann kam eine überraschende Wende, für die es keine wirkliche Erklärung gibt: Die Jünger erleben Auferstehung, sie spüren, dass Jesus lebt, dass das alles, was sie mit ihm erlebt haben, nicht eine kurze Episode war, sondern von Dauer. Dass diese Gemeinschaft und diese Liebe nicht einfach wieder aufhören.

Seitdem ist dieser Glaube in der Welt: Dass die Liebe stärker ist als der Tod. Das ist es, was zählt, auch wenn weiter Menschen sterben, und auch wenn es weiter Grausamkeiten, Gewalt und Ungerechtigkeit in der Welt gibt.

Das Leiden ist nicht Strafe Gottes – Gott leidet mit uns, wie Jesus gelitten hat. Und schenkt das Licht der Auferstehung.

Machen wir uns nichts vor. Es wird nicht leicht gehen. Daran erinnert uns Heinrich von Kleist. Aber wir wissen auch: Diese Solidarität blitzt nicht nur mal kurz auf, sondern zieht sich auch durch und entwickelt Kraft. Seit Adam und Eva, seit Maria und Josef und Jesus, und überall dort, wo Menschen aneinander denken und sich füreinander einsetzen.

Amen.

Online-Predigt „Come together“ und „Social distancing“

Liebe lesende Gemeinde,

vor ein paar Tagen hatte ich ein Gespräch mit einem Freund – durch das verschlossene Hoftor an der Neuen Brüderkirche hindurch, selbstverständlich auf 1,5 m Abstand. „Social distancing haben wir Deutschen ja drauf“, sagte er, und es kann sein dass er den Unterschied etwas deutlicher spürt wegen seines Migrationshintergrunds. Natürlich haben wir beide gelacht, denn normalerweise sehen wir das weniger als Wert, aber jetzt kommt es uns zugute. In Italien leben die Großfamilien zusammen, die Jungen und die Alten – schön eigentlich, und irgendwie schade, dass das Miteinander der Generationen bei uns nicht so intensiv gelebt wird. Jetzt im Moment ist es vielleicht ein Vorteil – merkwürdig. „Wir sind ja ein bisschen a-sozial – aber das ist gar nicht negativ gemeint! Distanzierung kann ja auch etwas Gutes sein“, sagte mein Freund – und wir mussten das Gespräch unterbrechen, aber mich hat das noch weiter beschäftigt.

Es ist schon merkwürdig, dass wir zum Gottesdienst nicht mehr zusammenkommen können, und auch sonst nicht wirklich. Maximal zwei dürfen sich begegnen, und immer auf Abstand. Es ist keine Frage, dass das im Moment von höchster Bedeutung ist. Nur so kann die Pandemie verlangsamt werden, nur so können wir es schaffen, dass das Gesundheitssystem nicht völlig überlastet wird, nur so können wir Menschenleben retten.

Aber ungewohnt ist es schon. Sonst tun wir alles für „Come together“ – jetzt tun wir alles für „Social distancing“. Ich habe mal ein Lied geschrieben namens „Wir kommen zusammen“, in dem sich für mich ganz gut ausdrückt, was Gottesdienst ausmacht.

Wir kommen zusammen – mehr Infos zum Lied hierhttp://zukunftsmusik-kirchenlieder.de/wir-kommen-zusammen

Aber diese Gemeinschaft, dieses Im-Kreis-Stehen ist im Moment nicht möglich.

Wie ist das mit Nähe und Distanz? Ist Nähe immer das Gute, und Distanz immer problematisch?

Wie ist das eigentlich in unserer Tradition mit Nähe und Distanz, mit Gemeinschaftsbildung und Vereinzelung? Zum Wert von Gemeinschaft gibt es natürlich viele Stellen in der Bibel und viele Beispiele aus der Kirchengeschichte. Aber zu Distanz und Vereinzelung? Doch, da gibt es auch einiges!

Im Alten Testament schon gibt es Gesetze, nach denen sich Menschen in bestimmten Situationen aus der Gemeinschaft zurückziehen sollen. Da mischen sich Hygienemaßnahme und Religion, das ist nicht alles so rational, und vieles lehnen wir heute ab. Aber die Grundidee war schon da!

Und auch die Unterbrechung der Arbeit, die jetzt an vielen Stellen nötig wird, hat da große Tradition: Am Sabbat bleiben alle zu Hause!

Im Neuen Testament scheint manches davon relativiert zu werden: Jesus will keine Gebote abschaffen, aber er setzt die Liebe über alles. Und manche soziale Distanzierung überwindet er, er setzt sich mit Ausgegrenzten und Gesetzesübertretern an einen Tisch und zieht damit den Ärger derjenigen auf sich, die sich an Gesetze halten wollen und darin die einzige Möglichkeit sehen, dass alles gut wird. Und er kommt sogar Aussätzigen nahe, die sonst von allen ferngehalten werden.

Aber auch Jesus braucht manchmal Distanz: Er zieht sich in die Wüste zum Beten zurück – lange Zeiten, 40 Tage! Sogar im Garten Gethsemane will er alleine Beten.

Daran schließen Mönche an: Neben den Mönchsgemeinschaften gibt es auch die Eremiten – eine ganze Bewegung war das. Mönche, die sich in die Einsamkeit der Wüste zurückgezogen haben, um ganz mit Gott allein zu sein. 

Im Mittelalter hat Meister Eckardt viel über die „Abgeschiedenheit“ gesprochen: Nur ganz getrennt von der Welt könne man Gott begegnen, sagte der große Mystiker. Die Welt lenke zu viel ab. Nachvollziehbar, muss ich sagen.

Natürlich ist das alles ein freiwilliger Rückzug von der Welt. Und so ganz vollständig kann er auch nicht gewesen sein, denn ganz ohne Gemeinschaft kann niemand leben. Oft kamen Menschen zu den Eremiten in ihre Einsamkeit, um mit ihnen zu sprechen – und die versorgten sie wenn nötig auch mit Lebensmitteln.

Wozu nun das alles? Wohin führt diese Reise in die Vergangenheit?

Wir könnten mal versuchen, diese soziale Distanzierung, die jetzt für eine Zeit nötig geworden ist, nicht als Verlust zu empfinden sondern als Gewinn im Sinne von Meister Eckardt. Mehr Zeit mit Gott! Das ist natürlich nicht ganz so einfach und selbstverständlich. Nur weil man alleine ist hat man nicht automatisch mehr Gemeinschaft mit Gott. Man kann auch in beunruhigenden Nachrichten ertrinken. Hier geht es aber darum, ganz bewusst auszuwählen. Zeiten zu begrenzen. Fake-News auszusortieren. Und bei dem zu bleiben, was uns Kraft gibt. Und das kommt nicht nur von außen, sondern auch von innen. Viele machen die Erfahrung, dass ihnen ein Gebet Kraft geben kann, ein Gespräch mit Gott. Für manche sind es innere Bilder (z.B. der liebende Blick Jesu oder Gottes). Manche brauchen gar keine Worte und keine Bilder, es ist nur die Konzentration auf die Quelle des Lebens.

Gleichzeitig mag es sein, dass die Einsamkeit uns den Wert von Gemeinschaft und Solidarität ganz neu erfahren lässt. Indem wir merken, wer und was uns fehlt. Aber auch, indem wir vielleicht alte Verbindungen reaktivieren oder indem ganz neue entstehen. Indem Hilfenetze entstehen, die vorher gar nicht nötig waren. Dann entsteht vielleicht gerade durch die Distanz eine neue Nähe. Es ist wie so oft paradox. Vielleicht ist das Projekt „Social Distancing“ im Grunde ein großes „Come Together“.

Jesus hat unser Verständnis von Gemeinschaft verändert. Der Predigttext für heute steht im Hebräerbrief im 13. Kapitel: „12 Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. 13 So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen. 14 Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“

Und so können wir niemand mehr draußen vor dem Tor alleine lassen. Wir müssen vor das Lager, aus unserer eigenen Gemeinschaft hinausgehen, weil niemand allein bleiben soll. Wir können nicht mehr nur an einige denken, denn Jesus hat sich mit denen vor dem Tor identifiziert.

Die Bemühungen um Krisenbewältigung sind bemerkenswert. Es ist gut, dass viele kleine Betriebe Unterstützung erhalten. Trotzdem muss ich sagen: ich bin noch nicht ganz sicher, was die Bilanz sein wird am Ende dieser Krise. Gehen wir solidarisch durch diese Zeit? „Geld ist genug da“ für die Maßnahmen zur Rettung der Wirtschaft. Aber ist auch genug Geld da für die vielen, die ihre Arbeit trotzdem verlieren? Wir werden jedenfalls nicht nur „Social Distancing“ brauchen, sondern weiterhin auch „Come Together“ in anderer Form. Ob wir auch das „drauf haben“, wird sich zeigen. Wir hoffen darauf und arbeiten daran mit.

Gott segne Sie und Euch! Im Rückzug und in der Kontaktsuche in anderer Form, in Distanz und Nähe, als Einzelne und als Gemeinschaft.

Amen.

Noch nicht aufgenommen – bitte selber singen 😉

Online-Predigt zum Sonntag Lätare

von Pfarrerin Claudia Barth

„Kommt alle raus! Kommt! Die Überraschung ist da!“, ruft meine erwachsene Tochter. Etwas verunsichert folge ich ihrem Ruf. Dass sie alle so rumdirigiert, ist ungewöhnlich. Und was soll es gerade noch Schöneres geben? Immerhin haben wir es gerade geschafft, die verkleinerte Familie mitten in Coronazeiten zum Essen zu versammeln. Nur unsere jüngste Tochter ist noch beim Freiwilligendienst in Ghana und wir wissen nicht, ob sie am Wochenende doch ausgeflogen wird. Da haben wir gerade viele Fragen, wie das alles weitergehen soll. Und jetzt also Überraschung. Ich sehe jemand aus dem Auto steigen. Kenne ich die? Und noch jemand. Die kenne ich. Zwar mit afrikanischer Zöpfefrisur, aber ganz eindeutig: das ist unsere Tochter Sophie! Sie ist schon da! Einfach so! Was eine Freude!

Sie wollte uns überraschen, hat drei Tage dichtgehalten – obwohl sie von jetzt auf gleich packen musste, viele liebgewonnene Menschen ohne Abschied zurücklassen musste, um schnell in die Hauptstadt und zum Flughafen zu kommen. Ein schwerer Weg. Und doch auch große Freude mitten in all dem, einfach weil wir wieder zusammen sind!

Wir leben in einer besonderen Zeit. Ja, „Corona“ ist in aller Munde und hat unser aller Leben in den letzten zwei Wochen sehr verändert. Aber wir leben auch mitten in der Passionszeit. Die Zeit vor Ostern ist eine Zeit der Einkehr. Wir erinnern uns an das Lebensende Jesu, wir bedenken unser eigenes Leben und wir probieren Umkehr. Solches Verzichten, nämlich z.B. Fasten wie es in fast allen Religionen zeitweise üblich ist, ist ein Einüben in ein anderes Leben. Wie ist das, wenn ich zeitweise auf den morgendlichen Kaffee verzichte, mich von Süßigkeiten enthalte oder bewusst auf die Kurzstrecken mit dem Auto verzichte? Fehlt mir tatsächlich was mit Tee oder Saft, Nüssen und Trockenobst oder beim Fahrradfahren? Die Fastenzeit, das Verzichten, ist eine Chance: Ich merke, dass es auch anders geht. Leben ganz anders ist möglich. Und ich merke auch: das muss nicht beschränkt sein auf die sieben Wochen vor Ostern. Manches brauche ich tatsächlich gar nicht zum Leben. Manches fühlt sich so gut an, dass ich es öfter machen will. Ich habe plötzlich Mut, anders zu leben. Und ich habe auch das Zutrauen und neue Kraft, manches ganz anders zu machen. Umkehren. Einen neuen Weg finden. So eine besondere Zeit vor Ostern kann vieles neu machen.

„Boah!“, seufz eine Bekannte, die ich zufällig vor dem Buchladen treffe, „es ist schon eine surreale Zeit. Ich komme gar nicht hinterher mit meinen Gefühlen. Einen Tag geht es so, am nächsten ist wieder alles anders.“ So geht es gerade vielen von uns: Ungefragt finden wir uns im verordneten Anhaltemodus. Auch eine Vollbremsung mit Ansage ist erschreckend. Das Gewohnte geht so nicht mehr. Das normale Tempo meines Alltags und die bekannten Wege in der Freizeit und mit Freunden – alles nicht mehr möglich. Ein bisschen ist es so als müssten wir alle zurück auf Anfang. „Gehe nicht über ´Los´, ziehe keine 4000 Euro ein.“ Heißt es im Spiel. Verordnete Pause. Plötzlich ist Zeit zum Hinschauen, zum Hören, zum Wahrnehmen von Kleinigkeiten. Die Vögel zwitschern schon seit Tagen auffällig laut, ich habe schon mehrere Hummeln summend an der Balkontür wahrgenommen. Und morgens, da ist es so still, erstaunlich. Und schön. Ich genieße diese Erfahrungen. Und trotzdem bleiben bei vielen Menschen die Fragen im Hinterkopf, die ganz schön bohren können: was stelle ich nur so lange mit den Kindern an, allein, womöglich nur in der Wohnung? Habe ich genug zu Essen da? Werden wir diesen Stillstand finanziell überstehen – und die Arbeit behalten? Da ist viel Existenzangst, wenn wir plötzlich Zeit haben, mal von außen auf unser Leben zu schauen.

Und dann fliegen vor meinem Fenster plötzlich Riesenseifenblasen rum. Wie schön! Sie schillern in der Morgensonne. Die Kinder von nebenan schicken diesen Gruß in den Himmel – und laufen hinterher und wollen die Glitzerkugeln fangen. Ein vergängliches Glück. Aber ein Glück. Ein Glücksmoment, sehr kostbar. Wie die Freude über das Wiedersehen, das Glück des Zusammenseins – trotz des Wissens: da bleiben liebgewonnene Menschen zurück. Und auch hier kann nicht jeder sofort besucht werden.

Tröstlich ist das. Sich mitten in einer schweren Situation zusprechen zu lassen oder zu erfahren: „Du bist nicht allein. Ich bin da. Fürchte dich nicht.“ Mitten im Schweren blitzt die Erinnerung auf wie eine leuchtende Seifenblase:

„`Berge mögen von ihrer Stelle weichen und Hügel wanken, aber meine Liebe zu dir kann durch nichts erschüttert werden und meine Friedenszusage wird niemals hinfällig.´ Das sage ich, der Gott, der dich liebt.“

Gott liebt. Er liebt uns Menschen. Und er hat uns Hoffnung und Trost gegeben mit dem Leben und auch Sterben Jesu Christi. An Jesus können wir sehen: in allem, selbst im Leiden und Sterben, ist Gott da. Jesus konnte darauf vertrauen, obwohl er alleingelassen und schwer verletzt war. Und so hat er den Tod überwunden. Ist auferstanden. Jesus ist uns vorausgegangen, damit wir Trost und Hoffnung finden können: Das Leben geht weiter – Gottes Liebe wird uns durchtragen.                       

Manchmal ist es so, dass mitten im Schweren das sichtbar wird, was uns trägt. Das, was wir sonst in der Unruhe des Alltags nicht wahrnehmen, steht plötzlich klar vor uns, wenn wir mal zur Ruhe kommen – auch wenn es ein unfreiwilliger Stillstand ist. In der Freude über die Rückkehr unserer Tochter hat sich bei mir ein Liedvers gemischt. Ein Lied über die Freude trotz allem, was gerade nicht so leicht ist.

„Lobe den Herrn, meine Seele, und seinen heiligen Namen. Was er dir Gutes getan hat, Seele, vergiss es nicht, Amen. Lobe, lobe den Herrn, lobe den Herrn, meine Seele! Lobe, lobe den Herrn, lobe den Herrn, meine Seele!

Der mich im Leiden getröstet hat, der meinen Mund wieder fröhlich macht, den will ich preisen mit Psalmen und Weisen, von Herzen ihm ewiglich singen:

„Lobe den Herrn, meine Seele, und seinen heiligen Namen. Was er dir Gutes getan hat, Seele, vergiss es nicht, Amen. Lobe, lobe den Herrn, lobe den Herrn, meine Seele! Lobe, lobe den Herrn, lobe den Herrn, meine Seele!“ – (EG+ 87)

Ich wünsche uns allen, dass diese Freude immer mal wieder in uns aufleuchtet wie eine Seifenblase und uns tröstet, ermutigt, stärkt in allem, was uns gerade bedrängt: Gott hat es versprochen: Er ist da. Ich brauche keine Angst zu haben.

Gott segne und behüte Sie!

Online-Predigt am ersten Sonntag der Corona-Krise

Die Gottesdienste fallen aus – manche werden den Gottesdienst vermissen. Deshalb hier eine Predigt zum Nachlesen:

Liebe Gemeinde,

diesen Sonntag treffen wir uns nicht in der Kirche. Das ist natürlich schade, insbesondere diesen Sonntag, weil wir uns schon auf den Vorstellungsgottesdienst der Konfis gefreut hatten.

Und aus unterschiedlichen Gründen könnte man das auch in Frage stellen. Z.B.:

  • Es entscheidet doch jeder selbst, ob er sich in Gefahr bringen und anstecken will oder nicht.
  • Es wird schon nichts passieren, wenn alle Abstand halten.
  • Früher sind die Menschen in Notzeiten immer in den Kirchen zusammengekommen.
  • Haben wir denn gar kein Gottvertrauen mehr?

Ich will jetzt gar nicht auf alles eingehen, aber auf die letzte Frage schon. Denn während man zu den anderen Fragen leicht Antworten aus epidemiologischer Sicht finden kann, geht es bei der letzten Frage um Theologie. Und dazu würde ich gerne etwas sagen.

Natürlich ist Gottvertrauen gut. Natürlich brauchen wir die Zuversicht, dass am Ende alles gut wird auf die eine oder andere Weise. Ganz ohne Gottvertrauen (oder einfach Vertrauen in die Zukunft) neigen Menschen sicher leichter zu extremen, übertriebenen Hamsterkäufen (ein bisschen Hamstern ist ja schon in Ordnung und auch richtig, damit man nicht so oft einkaufen gehen muss). Dann muss man für alles selbst sorgen, und man fühlt sich eben sicherer, wenn man „prepared“ ist für monatelange Selbstversorgung.

Und es ist auch richtig, manches in Gottes Hand zu legen. „Dein Wille geschehe“, beten wir im Vaterunser. Also, alles laufen lassen?

Der Haupttext für den ersten Sonntag in der Passionszeit, „Invokavit“, ist die Erzählung von der Versuchung Jesu in Matthäus 4. Darin kommt auch diese Episode vor:

„5 Darauf nahm ihn der Teufel mit sich in die Heilige Stadt, stellte ihn oben auf den Tempel 6 und sagte zu ihm: Wenn du Gottes Sohn bist, so stürz dich hinab; denn es heißt in der Schrift: Seinen Engeln befiehlt er um deinetwillen, und: Sie werden dich auf ihren Händen tragen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt. 7 Jesus antwortete ihm: In der Schrift heißt es auch: Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen.“

Also, wir sollen nicht unnötige Risiken eingehen – und uns dann am besten noch nachher beschweren, Gott habe nicht geholfen.

Dazu gibt es einige ganz lustige und interessante Sprüche, die ich euch nicht vorenthalten möchte.

Z.B.: Vertrau auf Gott – aber schließ dein Auto ab! O.K., das richtet sich vielleicht mehr an Autobesitzer. Genauso wie: Fahr nicht schneller als dein Schutzengel fliegen kann.

Aber auch dieser hier zielt in eine ähnliche Richtung: Gott hat keine Hände als unsere Hände. Sagte Dorothee Sölle. Daraus ergibt sich eine interessante Paradoxie: Wir legen die Sache in Gottes Hände – aber Gott hat keine anderen Hände als unsere Hände. Damit ist klar, wir müssen es irgendwie selbst machen – aber zusammen, es ist eine größere Sache, die wir aber selbst tun.

Da gibt es auch die schöne Geschichte von der Frau (oder war es ein Mann?), die sich bei Hochwasser auf das Dach ihres Hauses flüchtet. Es kommt ein Boot und will sie mitnehmen, aber sie sagt: Nein Danke, Gott wird mich retten! Das Wasser steigt, es kommt noch ein Boot, und dann ein Hubschrauber, sie antwortet wieder das gleiche, und schließlich ertrinkt sie. Im Himmel fragt sie Gott: Wieso hast du mich nicht gerettet? Und Gott antwortet: Ich habe dir zwei Boote und einen Hubschrauber geschickt, und jetzt sagst du mir, ich habe dich nicht gerettet?

Gottes Wirken ist manchmal ganz schön versteckt. Aber wo Besonnenheit und Liebe am Werk sind, ist Gott am Werk. Wo Menschen besonnen und liebevoll handeln, ist Gott am Werk – wenn man so will. Gott ist die Liebe, heißt es in der Bibel. In diesem Sinne wollen wir auch diese schwere Situation mit dem Corona-Virus Gott anvertrauen. Möge Gott die Liebe und die Besonnenheit der Menschen stärken, und insbesondere unsere Solidarität – denn darum geht es. Wer jünger ist könnte locker sagen: Ich werde es schon überleben, ich habe keine Lust, mich irgendwie einschränken. Der Staat könnte auch sagen: Wir lassen das laufen, wir wollen ja nicht die Wirtschaft schädigen. Aber es geht um den Schutz derjenigen, bei denen schlimmere Krankheitsverläufe zu befürchten sind. Deshalb beten wir für Besonnenheit und Solidarität. Und damit überlassen wir die Sache gerade nicht einfach nur Gott. Sondern damit richten wir selbst uns auf diese Ziele hin aus. Damit eröffnen wir einen Raum, wie mir vor kurzem jemand sagte. Einen Raum in uns, aber nicht nur das, sondern auch zwischen uns und in der Welt. Einen Raum für das Wirken Gottes, das immer auch etwas ist, was mit uns und zwischen uns geschieht.

So wie es in vielen Kirchen geschieht, möchte ich zur Gottesdienstzeit sozusagen stellvertretend für alle beten. Vielleicht betet ihr ja zu Hause mit. Bleibt behütet und gesund!

Gott, schaffe du, was wir nicht schaffen können

Info zum Lied hier.

Stefan Nadolny

Herzliche Grüße auch von Pfarrerin Claudia Barth, die in der Erlöserkirche das Gebet hält.

Unter www.ekkw.de gibt es auch eine Videoandacht unserer Bischöfin.

Gesprächsabende in der Passionszeit

Auch in dieser Passionszeit gibt es wieder die Ökumenischen Bibelabende, diesmal zum Deuteronomium (5. Buch Mose) – Dokument eines interessanten Reformprozesses und einer sozialen Bewegung für mehr Gerechtigkeit im alten Israel:

Dienstag, 10.3.2020 Ev.-Freikirchliche Gemeinde Mönchebergstraße
Donnerstag, 12.3.2020 Gemeindehaus Wolfsanger
Dienstag, 17.3.2020 Neuapostolische Gemeinde Fuldatalstraße
Donnerstag, 19.3.2020: Ort: Gemeindehaus Bonifatius

Außerdem laden wir ein zu etwas anderen Passionsgedanken im Rahmen von thematischen Abenden:

Sterben – „… für mich der Anfang“ (Dietrich Bonhoeffer)

Dieses Jahr jährt sich am Gründonnerstag der 75. Todestag von Pfarrer Dietrich Bonhoeffer. Er wurde noch kurz vor Kriegsende aufgrund seiner Widerstandstätigkeit gegen die Nationalsozialisten hingerichtet. Mit zwei thematischen Abenden und in einem Gottesdienst erinnern wir an einen klugen Theologen und mutigen Menschen, der in einer Ausnahmesituation bewusst als Christ gelebt und gehandelt hat.  Termine:

Dienstag, 31. März, 18 Uhr Stadtteilzentrum Wesertor
Montag, 06. April, 18 Uhr Gemeindehaus Erlöserkirche
Gründo., 09. April, 18 Uhr Gottesdienst mit Tischabendmahl NBK

Auch außerhalb der Passionszeit gibt es Gesprächsangebote zu theologischen Themen, und zwar monatlich: Der Bibelgesprächskreis trifft sich jeweils am 4. Montag des Monats um 18.30 Uhr im Stadtteilzentrum Wesertor im Kursraum 2. Nächste Termine: 23.3., 27.4. und 25.5.2020

Seminar auf der Altstädter Hütte 3.-4. August 2018

Thema Resonanz. Natur wahrnehmen und achten, Stille– und Klangübungen & Land Art

Übernachtung in der Hütte ohne fließendes Wasser, Wasser kommt aus der Quelle. Naturwahrnehmungsübungen nach Cornell mit Jenne Michaelis, Stille mit Hartmut Hübner, Land Art mit Stefan Nadolny, Kochen auf dem Küchen-Holz-Ofen

Samstag 11 Uhr bis Sonntag 14 Uhr

Anmeldung bei Pfarrer Stefan Nadolny, Stefan.Nadolny@ekkw.de oder 0157-38704495

Anfahrt mit Straßenbahn oder Auto, wird  nach Anmeldung besprochen. Treffpunkt  11 Uhr Neue Brüderkirche