„Es gibt mehr, als mich selbst“

Tamara Drath ist eine vielseitige Frau. Sie war „Eisenbahnerin im Betriebsdienst“ und darf einen ICE der ersten Generation fahren. Sie war Zugchefin, Ausbilderin und Trainerin bei der Bahn in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden. Sie ist Psychologin und seit 2014 selbständig. In Espenau bei Kassel betreibt sie eine Kindertagespflegeeinrichtung. Die Nachfrage nach ihrem Betreuungsangebot ist groß, und die Schwangeren melden die ungeborenen Kinder schon an.

Irgendwann Ende 2018 hat Tamara Drath erfahren, dass an der Neuen Brüderkirche in Kassel gute Brote vom Bio-Anbieter Kragenhof an Menschen verteilt werden, die dieses Angebot gerne annehmen. Tamara Drath nahm Kontakt zur Kirchengemeinde auf, „denn das ist doch etwas für den Landkreis, wo ältere Menschen mit wenig Rente auch gerne ein gutes Brot essen würden“. So begann Tamara Drath das Brot vom Kragenhof am Wesertor zu holen, um es in Espenau zu verteilen.

„Dann fing Corona an, und im März 2020 haben die Tafeln nicht mehr abgeholt, was in den Geschäften an Lebensmitteln abzugeben war“, erinnert sich Tamara Drath, denn in den Tafeln engagieren sich viele ältere Menschen, die sich durch den Rückzug aus der Öffentlichkeit vor einer gefährlichen Infektion mit dem Corona-Virus schützen wollten. Statt der Mitarbeiter der Tafeln fuhr nun Tamara Draht zu den Läden. Sechs größere Märkte steuerte sie beinahe täglich an: „Und das hat sich eingespielt. Ich hole alles. Obst, Gemüse und Molkereiprodukte. Das ist auch ein Beitrag gegen die Lebensmittelverschwendung. Jetzt, da die Tafeln wieder sammeln, sind es noch drei bis vier Läden geblieben, die ich anfahre. Pro Laden lade ich mein Auto, einen kleinen Van, einmal voll. Es wird schon vieles nicht verkauft. Das war mir anfangs gar nicht bewusst.“

Warum Sie, Tamara Draht, die Lebensmittel Tag für Tag sammelt? „Ich bin ein sehr gläubiger Mensch“, antwortet sie, „und ich komme mit Stefan Nadolny gut aus . Ich mag ihn als Mensch und als Pfarrer. Ich fühle mich hier in der Neuen Brüderkirche mit ihrem Engagement für die Menschen zu Hause und geborgen. Und das ganze Drumherum. Egal, wo die Menschen, die hier zusammentreffen, herkommen, und unabhängig davon, welchen Glauben sie haben: Wir verstehen uns alle gut. Häufig schauen die Menschen viel zu sehr auf sich. Hier sind es andere Werte, die wichtig sind. Zum Beispiel, dass man miteinander lebt und sich stützt. Das ist auch wichtiger als die Unterschiede zwischen den Religionen. Den Unterschied zwischen den Religionen merkt man hier nicht. Das kann auch anders sein, wie ich aus Erfahrung weiß, denn ich war einmal mit einem Mann aus einer anderen Religion verheiratet. Hier herrscht eine schöne Atmosphäre, weil man sich wohl fühlt und etwas Gutes zu tun hat. Interessant sind die Gespräche mit den anderen Menschen. Man hört so viele unterschiedliche Geschichten. Ich erfahre etwas über die Beweggründe, warum Menschen nach Deutschland kommen. Ich erfahre, dass es etwas anderes gibt als mich selbst.“

Welche Geschichte oder welches Erlebnis hat Sie, Tamara Drath,  denn am meisten beeindruckt? „Beeindruckt war ich nicht. Ich war geschockt. Ich habe hier eine Drogenabhängige kennengelernt. Die kam hierher und wollte Geld. Sie schlug immerzu ihren Kopf gegen die Wand, sie hatte überall Wunden, und sie erzählte, dass sie sich prostituiert. Und immer wieder fragte sie nach zwei Euro, und reagierte nicht auf Hinweise auf Beratungsstellen. Ich dachte mir: ,Mein Gott, was es doch für ein Elend gibt auf der Welt, hier, mitten unter uns.‘ Und ich habe ihr die zwei Euro gegeben. Das ist mir noch ein bisschen nachgegangen, und wir haben darüber gesprochen, denn eigentlich wollen wir ja  kein Geld geben, sondern Hilfe zur Selbsthilfe. Aber das Elend kann auch mal stärker sein als die Regel.“ Es ist eigentlich weniger das Elend als die eigene Hilflosigkeit und Ohnmacht, die mich beeindruckt hat.

Portrait: Claus Müller von der Grün – Foto: Karola Müller von der Grün


Herzlich Willkommen in der Erlöserkirche Fasanenhof und in der Neuen Brüderkirche!