Interview mit Zemenu Tenagne, der bei uns Bundesfreiwilliger war. Er hat in Äthiopien als Journalist gearbeitet und wurde deshalb verfolgt. Das Interview führte Pfarrerin Cl. Barth
Zemenu, du lebst nach deiner Flucht aus Äthiopien jetzt schon einige Jahre in Europa, in Polen und hier in Deutschland. In Äthiopien spielt Religion im Alltag eine große Rolle. Siehst du hier im demokratischen System Deutschlands Vorteile für das Zusammenleben der Menschen?
Für mich ist Demokratie friedliches Zusammenleben. Ich würde sogar sagen, dass ein demokratisches Gemeinwesen friedliches Zusammenleben, so wie wir Christen es im Himmelreich erwarten, ermöglicht. Ich verbinde mit Demokratie die Anerkennung natürlicher und sozialer Rechte: jede/r ist so, wie er/sie geschaffen wurde. Wir sind unterschiedlich begabt, aber gleich an Würde. Und wir leben in sozialen Zusammenhängen, die wir frei wählen und ausleben können. Das finde ich sind sehr wichtige Rechte. Diese Rechte sind geprägt durch die christliche Religion.
Für dich hängen Christentum und demokratische Formen des Zusammenlebens also eng zusammen.
Ja, Werte und Gebote des Zusammenlebens sind in den europäischen Demokratien Gesetze geworden, die für alle bindend sind, unabhängig davon, ob jemand gläubig ist oder nicht. In Äthiopien z.B. ist das anders: Die Regeln des orthodoxen Christentums sind dort stark, auch die sozialen Regeln im Alltag, aber das Rechtssystem ist schwach, obwohl es verbriefte Rechte in der Verfassung gibt. Die Regierung setzt sie nicht zum Wohl der Menschen um, sie verfolgt ihre eigenen Ziele. Das führt zu Unruhe und Krieg, obwohl das Zusammenleben in den religiös geprägten Gemeinschaften gut klappt. Aber die jungen Leute, die Amhara-Fano, kämpfen jetzt gemeinsam gegen die autoritäre Regierung, unter der alle leiden.
Europa konnte sich Frieden bewahren nach meinem Eindruck, weil das Rechtssystem hier aus christlichen Werten entstanden ist und auch umgesetzt wird; wenn man sich entsprechend der Grundwerte verhält, ist ein humanitäres Zusammenleben in Frieden nicht schwierig. Christentum und Demokratie sind meiner Meinung nach eng miteinander verwoben.
Wie erlebst du das hier in Deutschland: werden die Vorzüge der Demokratie deinem Eindruck nach von den Menschen hier auch genutzt? Nutzen wir die Freiheit, die wir haben?
Ich sehe, dass die Demokratie hier gut funktioniert! Ich sehe eine große Verbundenheit zwischen den Werten des Christentums und den gesetzlichen Grundlagen hier – allein deshalb funktioniert es für Christen schon gut, denke ich. Und ich glaube, dass auch die Erfahrung von Sicherheit wichtig ist: das Gesetz wird durchgesetzt, notfalls mit Strafe, darauf verlassen sich die Menschen. Sie respektieren das Rechtssystem, wenn sie z.B. nicht über die rote Ampel fahren, weil sie wissen, dass sie dann bestraft werden – so hat es mir gerade ein Taxifahrer erzählt. In Äthiopien ist das eher ein rechtsfreier Raum geworden.
Ich würde sagen, dass sich da gerade doch einiges verschiebt oder schwieriger wird in der deutschen Gesellschaft. Wir erleben es gerade auch bei einer christlich geprägten Partei, dass es bezüglich Migration und Flüchtlinge christliche Werte durchaus schwerer haben, eben nicht mehr Konsens sind.
Ich nehme das nicht so krass wahr; mein Eindruck, dass es funktioniert, ist viel stärker. Die Demokratie funktioniert ja trotzdem. Es ist mühsam, weil es auch selber aktiv werden bedeutet. Das ist nicht so leicht. Demokratie ist für mich immer noch die beste Antwort auf die Frage nach einem friedlichen Zusammenleben. Ich habe hier keine Angst vor körperlicher Gewalt, obwohl es immer wieder ein Thema ist. Ich hatte das Glück, in den letzten fünf Monaten in Warburg eine Ausbildung zum Thema „Gewaltfrei Handeln“ machen zu können. Als Journalist war es für mich besonders wichtig, diesen Kurs zu belegen, insbesondere weil ich aus einem Land komme, das mit einer erheblichen Menge an Gewalt konfrontiert ist. Wir alle streben danach, eine Welt ohne Gewalt zu sehen. Leider funktioniert das immer noch nicht gut, insbesondere in Ländern wie Äthiopien.
Die Demokratie ist hilfreich, aber nicht das perfekte System. Der Umgang mit Minderheiten im demokratischen System wird oft problematisiert. Wie erlebst du es, hier als Teil einer schwarzen Bevölkerungsminderheit zu leben?
Das ist eine schwierige und interessante Frage. Tatsächlich sind Hautfarbe, Nationalbewusstsein und Religion überall für Minderheiten ein Problem. Meine Erfahrung hier ist durchaus, dass ich wegen meiner Hautfarbe grundsätzlich nicht viele Probleme hatte oder habe. Aber es gibt eine Haltung hier, die geflüchteten Menschen mehr oder weniger vorwirft, nur aus ökonomischen Gründen hier zu sein. Menschen, die das so formulieren, interessiert nicht, dass ich wegen meinem Beruf, wegen Verfolgung aus politischen Gründen meine Heimat verlassen musste. Und dass ich mich hier mit ehrenamtlicher Arbeit, mit dem Bundesfreiwilligendienst und jetzt mit einer weiteren Ausbildung in die Gesellschaft einbringe und integrieren möchte. Meine eigene Geschichte zählt nicht oder wird nicht angehört. Ich bin aber froh und sehr dankbar, in einem mehrheitlich christlichen Land zu leben, in dem ich meine Religion ausüben kann und alleine deshalb schon dazu gehöre.
Du hast Asyl in Deutschland beantragt, weil du durch deinen Beruf als Journalist in Äthiopien gefährdet warst und mit Verfolgung rechnen musst. Die Situation hat sich für Journalisten insgesamt verändert. Wie fühlt es sich für dich an, wenn du hier journalistisch tätig bist?
Gerade jetzt Anfang Mai ist der Internationale Tag der Pressefreiheit. Kanzler Scholz hat bei X darauf hingewiesen, dass die Situation für Journalisten auf der ganzen Welt gefährlicher geworden ist („Ohne Pressefreiheit gibt es keine Demokratie. Zu oft werden Journalistinnen und Journalisten von den Feinden von Freiheit und Demokratie bedroht, auch bei uns. Das ist nicht akzeptabel. Deshalb müssen wir uns für die Pressefreiheit einsetzen – überall.“ Das habe ich schon vor Jahren in Äthiopien mit meinen Kolleg:innen erlebt: wir konnten uns nicht auf Sicherheit und Freiheit verlassen. Viele meiner Freunde sind im Gefängnis gelandet und haben wegen ihres Berufes Verfolgung erlebt. Es ist in vielen Ländern gefährlich, wenn man nicht die Meinung der Regierung vertritt. Gewalt ist an der Tagesordnung, in Äthiopien gibt es jeden Tag Tote – und auch hier ist es schwer, das wahrzunehmen. Ich beobachte, dass Medien in ganz Europa dem Konflikt in Israel- Palästina seit Oktober 2023 viel Aufmerksamkeit schenken und andere Konflikte und Bedrohungen fast ganz aus dem Blick geraten. Dem versuche ich mit meiner Arbeit in den Sozialen Medien etwas entgegenzusetzen und zu erinnern, dass der Krieg in Äthiopien zwischen Regierung und Volk viele Tote fordert. Das ist schwieriger geworden – auch weil ich bisher keine Unterstützung meiner journalistischen Arbeit in Deutschland habe und das nur in meiner Freizeit machen kann, aber auch, weil die Narrative des Konfliktes so unterschiedlich sind. Das ist ja auch in der Ukraine und im Nahen Osten ein großes Problem.
Und das ist ja durchaus auch eine Herausforderung für die demokratischen Strukturen. Insofern ist die Demokratie gerade schon in einer besonderen Situation und angewiesen auf Demokrat:innen, die sich aktiv für ein friedliches Miteinander auch hier einsetzen. Ich danke dir für diesen Austausch, Zemenu!