Redebeitrag 12.3.2022 Kundgebung Kasseler Friedensbündnis

von Stefan Nadolny

Liebe Friedensfreundinnen und -freunde!

Es ist so eine Sache, wenn ich hier als Pfarrer spreche, denn natürlich kann ich hier nicht eine kirchliche Position vertreten, ich kann nicht für Kirche als ganze sprechen, dafür sind auch in der Evangelischen Kirche die Meinungen zu unterschiedlich. Also spreche ich von meinen Einschätzungen. Ich möchte nicht sagen, was richtig oder falsch ist, aber einen Beitrag zur Diskussion bringen.

Wir stehen alle gemeinsam gegen diesen Angriffskrieg von Putins Russland gegen die Ukraine, der durch nichts zu rechtfertigen ist. Es ist gut, dass da geschlossen und entschlossen Position bezogen wird gegen Krieg und Gewalt.

Mir fällt allerdings in der Diskussion stellenweise auf, dass Positionen, die die Situation differenziert betrachten, verdrängt oder verunglimpft werden, mit Worten wie „Putinversteher“. Für mich ist das ein Kandidat für das Unwort des Jahres.

Das liegt nicht daran, dass ich Putin verstehen würde. „Man muss nicht alles verstehen“ ist ein Satz, den ich mir immer wieder sage. Und was ich überhaupt nicht verstehe ist, wie man einen Krieg anzetteln kann. Mit allen diesen unglaublichen Grausamkeiten. Eine Stadt belagern, bis Menschen verhungern.

Gleichzeitig gefällt mir dieses Wort überhaupt nicht. Es legt nahe, dass es kein Verständnis gegenüber Putin geben könnte. Auch nicht partiell. Das aber finde ich problematisch.

Und zwar weil ich denke, dass nur Verhandlungen zum Frieden führen können. Und für Verhandlungen brauchen wir eine differenzierte Betrachtungsweise. Wir müssen weg vom Schwarz-Weiß-Denken. Wir brauchen die Bereitschaft, Zugeständnisse zu machen. Und eben auch ansatzweise ein Verständnis füreinander.

Man kann den Krieg und jegliche Gewalt klar ablehnen und gleichzeitig nach den Gründen fragen, die dazu geführt haben könnten. Auch nach eigenen Fehlern im Umgang mit Russland. Und ich denke nicht, dass der Fehler war, nicht rechtzeitig aufzurüsten. Sondern man hätte mehr Rücksicht darauf nehmen sollen, dass Russland einen Nato-Beitritt der Ukraine auf keinen Fall wollte. Man hätte mehr gemeinsam überlegen sollen, wie es möglich ist, dass die Ukraine bewusst ein Brückenland sein kann, neutral und mit West und Ost in guten Beziehungen. Gemeinsam mit der Ukraine und gemeinsam mit Russland. Das Tauziehen um die Ukraine war problematisch, und jetzt droht das Tau zu reißen, an der Stelle der Ukraine. Wäre es mit einer anderen Haltung möglich gewesen, diese Dynamik zu vermeiden?

Das ist natürlich nur eine Betrachtungsweise. Es soll nicht heißen, dass die Ukraine nur eine Stelle des großen Seiles, und nicht selbst Akteur. Aber natürlich ist auch die Ukraine nicht ganz einheitlich, sondern auch innerhalb der Ukraine gibt es unterschiedliche Tendenzen. Wenn man will, dass das Seil nicht zerreißt muss man aufeinander zugehen und Zugeständnisse machen.

Sicher, im Nachhinein ist man immer schlauer. Deshalb zurück in die Gegenwart. Jetzt sind wir eine Konfliktstufe weiter, und die Frage ist: Wie kommen wir da raus? Die Frage ist, denke ich, nicht: Wer ist stärker in diesem Konflikt? Denn das Kräftemessen führt nur zu unermesslichem Leiden. Wirklich Stärke zeigen wäre nur mit dem Einsatz von NATO-Truppen möglich, aber bringt die die Gefahr der atomaren Eskalation mit sich, und deshalb bin ich froh über die an dieser Stelle klare Haltung des Westen, das auszuschließen.

Wie kommen wir da raus? Nur mit Verhandlungen. Also: Welche Zugeständnisse sind möglich?

Dass der Westen geschlossen zur Ukraine steht, ist wunderbar und ein wichtiges Zeichen gegen den Krieg. Zu dieser Geschlossenheit und Entschlossenheit sollte aber auch das klare Signal gehören, dass man zu Zugeständnissen bereit ist, da es jetzt um das Ende der Kampfhandlungen gehen muss, so schnell wie möglich. Denn wenn 300.000 Menschen in Mariupol vom Hungertod bedroht sind, was wollen wir tun? Wie gesagt, ein militärisches Eingreifen wird nicht möglich sein. Aber da müssen wir jetzt sehr gut aufpassen, denn je mehr das Leiden sich steigert, desto größer wird das Gefühl von „da muss man doch was machen, das können wir doch nicht zulassen“. Machen wir uns also klar, zu welchen Zugeständnissen wir bereit sind. Wägen wir ab.

Dass der ukrainische Präsident Selensky inzwischen die Neutralität der Ukraine nicht mehr ausgeschlossen hat, ist gut. Ich persönlich denke, dass man auf die Forderung eingehen sollte, dass die Krim russisch wird und Donezk und Luhansk unabhängig. Die Stichworte Entmilitarisierung und Entnazifizierung sind wesentlich schwieriger (weil man ahnt, dass er damit eine ihm genehme Regierung meint), aber vielleicht ist ja Putin hier zu Zugeständnissen bereit, wenn man an anderer Stelle auf ihn zugeht.

Wichtig ist jedenfalls: Folgen wir nicht der Kriegslogik, die Putins Krieg uns aufzwingt! Verfallen wir nicht in Schwarz-Weiß-Denken. Erhalten wir uns eine differenzierte Betrachtungsweise.

Jesus hat bekanntlich gesagt: Liebet eure Feinde! Heute würde das sicherlich als Kitsch bezeichnet und Jesus als Putinversteher verschrien. Aber das ist alles andere als Kitsch. Kitsch ist eine zu einfache Sichtweise. Hier geht es aber um mehr Komplexität. Eure Freunde lieben, das ist normal, sagt Jesus. Es ist gut und sehr wichtig, dass wir die Ukraine unterstützen. Und gleichzeitig: Wirklich helfen wir der Ukraine nur, wenn wir erst das Gespräch und später auch die Freundschaft mit Russland wiederherstellen. Das können wir nicht allein, es kommt auch auf Putin und viele andere an, aber wir können einen Beitrag leisten. Es ist einen Versuch wert.