Familienorientierung in der Gemeindearbeit

– „We are family“ in der Hoffnungskirchengemeinde – Langfassung

von Timo Janssen, Vikar in der Hoffnungskirchengemeinde

„We are family“, so lautet das Motto der neuen Familienarbeit in der Hoffnungskirchengemeinde. Mithilfe des Innovationsfonds der EKKW wurden zwei neue Stellen geschaffen, um familienorientierte Arbeit in unserer Gemeinde zu stärken und auszubauen. Dass hier ein fruchtbarer Boden für Familienarbeit steckt, zeigen nicht nur die zwei Kitas in unserer Gemeinde (Kita Finkenherd und Fasanenhof), sondern auch die vielen Menschen, die die Kirchengemeinde als ihre (neue) Familie betrachten. Dabei stellt sich mir die Frage: Wie kann so eine Familienarbeit aussehen? Kann eine Gemeinde überhaupt eine „Familie“ sein? Steht sie dann nicht in Konkurrenz zur eigenen Familie? Und evangelisch betrachtet: Was sagt eigentlich die Bibel dazu, wenn eine Gemeinde eine Familie sein will?

Die Formen von Familie sind heutzutage sehr vielfältig. Es gibt große sowie kleine, multikulturelle, Patch-Work-Familien, Wohngemeinschaften, die sich als eine Familie betrachten, als auch die klassische Variante von Vater-Mutter-Kind. Wir werden alle in eine Familie hineingeboren. Die Familie, zu der wir uns aktuell zugehörig fühlen, kann später aber ganz anders aussehen. Am Anfang sind es oft die Eltern, die die eigene Familie ausmachen. Später sind es vielleicht Freunde, dann die Partner*in oder andere Beziehungen. Welchen Platz kann da eine Kirchengemeinde einnehmen?

Die Bibel – ein Buch voll mit Familien

Wenn man diese Frage mit der Bibel beantworten will, so erhält man zunächst viele Antworten. Man könnte sagen, dass die Bibel voll mit Familien ist. Adam und Eva mit ihren Kindern Abel, Kain und Set (1. Mose 2-4). Früh werden familiäre Probleme thematisiert, beispielsweise zwischen den Brüdern Esau und Jakob, die sich fast bis zum Tode streiten (1. Mose 25-33), oder zwischen Josef und seinen Brüdern (1. Mose 37-50). Jedes Weihnachten steht eine besondere Familie im Fokus, nämlich Josef, Maria und Jesus (Mt 1; Lk 2). Dazu verwendet die Bibel gerne das sprachliche Bild einer Familie. Prominent wird z.B. Gott als Vater im Vater Unser bezeichnet, Gottes mütterliches Handeln (Jes 49,14f.) beschrieben, aber auch sein Volk als uneinsichtige Kinder (Jes 1,2) dargestellt. Paulus nennt die Gläubigen immer wieder Kinder Gottes (Gal 4,6f.; Röm 8,14-17) und in jedem Brief begrüßt er sie als Brüder und Schwestern. Die Bibel scheint ähnlich vielfältige Familienbilder zu besitzen, so wie wir sie heute in der Gesellschaft erkennen.

Die Bibel hält aber nicht nur Bilder parat, sie spricht Familien auch direkt an. Sehr bekannt ist das vierte Gebot: „Du sollst seinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebst in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird.“ (2. Mose 20,12) Gleichzeitig sagt Jesus aber auch: „Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern, dazu auch sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein.“ (Lk 14,26). Dann aber kritisiert Jesus auch die Menschen, die das vierte Gebot nicht respektieren und ihren eigenen Vorteil gegenüber ihren Eltern suchen (Mt 15,3-6). Was denn nun?

Schnell wird klar. Das Thema „Familie“ schillert in der Bibel in vielen Farben. Wenn nun aber eine Gemeinde selbst Familie sein will und/oder sich an Familien wenden möchte, woran kann sie sich orientieren? Was für eine christliche Orientierung liegt nahe, wenn sie selbst familienorientiert sein will?

Jesus Christus, der Familienmensch

Ich entscheide mich an dieser Stelle, den klassisch „evangelischen“ Weg zu gehen und versuche mich, an Jesus Christus zu orientieren. Das hat einen großen Vorteil: Für Jesus sind Familien nicht fremd. Er selbst ist in einer Familie aufgewachsen und immer wieder kommt er mit Familien und ihren Problemen in Kontakt. Aber auch seine Wortwahl ist oft „familiär“. So bezeichnet er sich als „Menschensohn“ (z.B. Lk 19,10 „Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“), er spricht Gott mit „Vater“ an und selbst wird er sogar als „Sohn Gottes“ bezeichnet (z.B. Mk 15,39). Gerade die letzten Beschreibungen machen aber noch eine weitere Sache bei Jesus deutlich: Er nutzt familiäre Begriffe, um damit seine Beziehung zu Gott zu beschreiben. Jesus denkt bei Familie immer auch an seine himmlische Familie. Dass das schon früh Verwirrung oder Widerspruch ausgelöst hat, merkt man beispielsweise an der Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel. Nachdem seine Eltern ihn lange gesucht und dann im Tempel gefunden hatten, sagte er zu ihnen (auch seinem Vater Josef!), dass er bei denen sein muss, die zu seinem Vater gehören (Lk 2,49).

Die himmlische Familie

Jesus hat also immer seinen himmlischen Vater vor Augen. Letzten Endes ordnet er seine himmlische Familie seiner irdischen vor, wenn er sagt: „Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“ (Mk 3,35). So könnte man auch das vierte Gebot verstehen. Man soll zwar seine irdische Familie ehren, die himmlische Familie kommt aber davor. Sie kommt davor, weil sie größer als jeder Stammbaum ist. Nicht die biologische Abstammung, sondern die Liebe soll die Kinder Gottes untereinander verbinden. Jeder und jede kann und soll Teil dieser himmlischen Familie werden – eine Familie, in der Jesus unser Bruder, Gott unser Vater/Mutter und der andere Mensch unser Geschwisterteil ist.

Für eine familienorientierte Gemeindearbeit hat das eine grundlegende Konsequenz, wenn sie Teil dieser himmlischen Familie sein will: Sie begreift den Menschen, dem sie begegnet, als einen Teil ihrer eigenen Familie. Sie hat von ihrem Bruder und Sohn Gottes gelernt, dass jeder Mensch mit geschwisterlicher Liebe zu begegnen ist. Wenn Gemeinde himmlische Familie vor Ort sein will, dann bedeutet das Offenheit für die Herausforderungen und Probleme ihrer Geschwister. Sie kümmert sich um den „komischen“ Onkel genauso wie um den redseligen Bruder oder die motivierte Schwester. Solch eine Gemeinde weiß darum, dass unter Geschwistern nicht immer alles „Friede, Freude, Eierkuchen“ ist. Sie hofft aber auf die gemeinsame Liebe, weil der liebende Gott ihr Vater/ihre Mutter ist. Die Liebe Gottes eint sie und bringt sie zusammen, wie Vater, Sohn und Heiliger Geist miteinander in Liebe verbunden sind.

Bedeutet das für eine Gemeinde dann, mit bestehenden Familien zu konkurrieren? Jesus könnte man durchaus so verstehen. Immer wieder wird diese Konkurrenz zum Thema. In der Nachfolge seiner Jünger wird sie real, weil sie ihre Familie für und wegen Jesus zurückgelassen haben. Diese Konkurrenz ist da und ich meine auch, dass sie diese Konkurrenz nicht auflösen sollte. Wenn Jesus nämlich von seiner himmlischen Familie spricht, denkt er vom Ende her, das in die Gegenwart strahlt. Anders gesagt: Vom Reich Gottes. Er geht von der Zukunft des Menschen aus, davon wie der Mensch in der Zukunft Gottes sein wird. Er spricht von einer Realität, in der die Menschen unabhängig ihrer Kultur, Abstammung und Status zusammenleben werden (Gal 3,28). Gemeinde ist dann ein Vorgeschmack auf diese zukünftige, himmlische Familie, ein Vorgeschmack darauf, dass die irdischen Familien in eine himmlische Familie übergehen werden. Und damit wird sie immer einen empfindlichen Punkt irdischer Familien berühren. Jede Familie möchte in irgendeiner Form beständig sein, indem sie Traditionen, Rituale, Kultur, zumindest genetisch, etwas weitergeben will. Jesus will diese Beständigkeit aber in eine neue, mit Gott überführen.

Dabei werden die irdischen Familien aber nicht unwichtig. Jeder Mensch kommt aus einer Familie, wird von ihr geprägt. Oft ist es die Familie, in der das Kind, der Mensch, zum ersten Mal von Gott hört. Indem wir unsere Eltern ehren sollen, schauen wir auf unsere Anfänge und nehmen sie ernst – auch dann, wenn wir Teil der himmlischen Familie werden wollen, Teil der himmlischen Zukunft Gottes. Gäbe es nämlich das Bild einer liebevoll miteinander umgehenden Familie nicht, wäre es schwierig, sich vertrauensvoll an Gott zu wenden.

Hoffnungskirchengemeinde als Teil der himmlischen Familie

Wie lässt sich dieses Bild der himmlischen Familie auf die Hoffnungskirchengemeinde anwenden? Als Gemeinde schafft sie einen Ort, an dem jeder als Kind Gottes Willkommen ist. Sie schafft einen Raum, wo Vater, Sohn und Heiliger Geist wirksam werden können. Sie ermöglicht eine Atmosphäre, wo liebevoller Umgang die erste Handlungsmaxime darstellt. Dabei nimmt sie die jeweiligen Ursprünge, Kulturen und Familien der einzelnen Menschen wahr und ermöglicht ihnen ihre Gaben und Talente als Teil der himmlischen Familie einzubringen. Sie gibt einen Vorgeschmack auf die Zukunft mit Gott und singt: „We are one in the Spirit, we are one in the Lord. And we pray that all unity may one day be restored. And they’ll know we are christians by our love […].“ (Eg+ 84).

Wer hinschaut, findet an vielen Stellen diese himmlische Familie real werden: im gemeinsamen Musizieren, zusammen speisen, im Lachen und Lächeln, im Bauen und Arbeiten, im Teilen von Angst und Sorgen.