Predigt zum Sonntag Rogate, 17. Mai 20
I Hört Gott mich?
Eine der entscheidenden Fragen beim Glauben bezieht sich auf das Beten. Gläubige aller Religionen verbinden sich mit Gott durch das Gebet. Aber – hört Gott auch?
Hört er die Klagen der erschöpften Mütter, die Sorgen und Zweifel der Nachdenklichen? Kommen das Lob der Begeisterten und die Bitten der Vertrauensvollen bei ihm an? Und die Rufe um Erbarmen in lebensbedrohlichen oder auch nur sehr bedrängenden Situation – erreichen sie das Ohr Gottes?
Das ist eigentlich schwer vorstellbar. Der Schöpfergott, der sowohl streitbar als auch barmherzig dargestellt wird und als ewig und anbetungswürdig gilt, im Gespräch mit dem Menschen? Und wenn er mich und meine Sorgen kennt – was tut er mit dem Gehörten? Antwortet er?
Bei so vielen Fragen ist es erstaunlich, dass Menschen beten. Richtig logisch und folgerichtig scheint es nicht zu sein. Und doch tun es erstaunlich viele Menschen. 2008 waren es 51% der Deutschen, die Gebete „mindestens mit einer mittleren Intensität“ pflegten. Fast genauso viele stehen aber in Distanz zum Gebet. Aber beten ist offenbar sehr unabhängig vom Gottesdienst. Zum Beten muss niemand in ein Gotteshaus. Menschen beten privat. Sehr unterschiedlich in der Form und sicher mannigfaltig im Inhalt. Menschen beten im Stehen, Sitzen, Knien, mit erhobenen Händen oder mit gefalteten, sie sprechen laut oder leise, mehrfach am Tag oder nur in kurzen „Stoßgebeten“, sie danken und loben Gott, sie bitten für sich und andere, sie klagen. Auch mit Musik und Tanz, mit körperlichem Ausdruck, können wir uns mit Gott verbinden, beten.
Viele Menschen in allen Religionen beten. Dass sie es tun, ist für mich schon ein Teil der Antwort auf die kritische Frage: Hört Gott mich?
Ein anderer Teil der Antwort hat mit der Bibel zu tun. Denn in der Bibel wird gebetet – viele Abschnitte kreisen um das Gebet der Gläubigen und die Folgen, die sich auftun. Da wird berichtet von Reaktionen Gottes auf Klagen, Not und Sorgen genauso wie auf Dank und Lob. Abraham fordert von Gott seine Barmherzigkeit für die Gerechten in Sodom ein. Mose bittet mehrfach für das eher untreue Volk Israel, die Psalmbeter bringen sowohl Klage als auch überschwängliches Lob für Rettung vor Gott (z.B. Psalm 95, der Wochenpsalm), König Salomo, Gelehrte, Priester und Propheten (Samuels Lehrer Eli, Daniel, Zacharias und Saulus!/Paulus) wenden sich selbstverständlich im Gebet an Gott. Genauso hören wir auch von einfachen Leutewie Jakob auf der Flucht, Jona im Fischbauch, Maria als sie Gottes Engel begegnet, und auch Hagar, die ungerecht behandelte Magd der Sara. Sie sagt nach höchster Not und Rettung: du bist der Gott, der mich sieht.
Es gab und gibt viele Menschen, die es tun. Sie wenden sich einem Gegenüber zu, dass sie als mächtiger als sich selber ansehen. Betende Menschen wissen von ihren Grenzen und Begrenzungen. Indem sie sich selbst als Geschöpf annehmen, erkennen sie die größere Macht, Kraft und Herrlichkeit dieses Gegenübers an. Sie wenden sich in einer bestimmten Haltung an Gott. Im Beten lassen sie Gott Gottwerden. Und bleiben selber Mensch.
II Höre ich Gott?
Einer der Gründe für die vielen Geschichten in der Bibel und für das Beten überhaupt ist das, was dann geschieht. Als Beterin mache ich eine gänzlich unerwartete Erfahrung: Ich bin eben nicht nur kleines Geschöpf vor dem großen Gott. Gott schaut mich an. So wie Hagar das in der lebensbedrohlichen Wüste erlebte: du, Gott, siehst mich. Ich bin dir wichtig. Ich bin würdig zu leben, in deiner Gegenwart zu leben. Im Beten erfahre mich als Teil des Ganzen. Vor Gott erkenne ich meine Würde. Er macht mich nicht klein. Im Gegenteil. Er begibt sich auf meine Ebene. Kommt sozusagen zu mir. Gott macht sich klein für mich.
Diese Erfahrung lässt mich aufhorchen, lässt mich hören. Denn wenn Gott hört, dann antwortet er womöglich auch. Tatsächlich bezeugen das unzählige Beter*innen. Und ebenso unzählige Möglichkeiten der Antwortform sind bezeugt. Wie wir Menschen wiederum Gott hören – dafür gibt es kaum Worte. Bilder und Analogien helfen uns, das kaum sagbare zu benennen. Oft wird diese Erfahrung Gottes mit dem Heiligen Geist verbunden. Da Gott uns mit seinem Atem, seinem Geist, zum Menschsein erweckt (das ist im Hebräischen dasselbe Wort: ruach), sind wir mit seinem „Geist“ erfüllt. Und können folglich als sein Geschöpf den Schöpfer auch verstehen.
Eine Kollegin hat das mal so beschrieben:
Beim Beten fällt ihr plötzlich der Name einer Freundin ein. Ganz deutlich ist ihr, dass diese Freundin eine Ermutigung brauchen könnte. Obwohl sie sicher schon bei der Arbeit ist und sie selber mitten im Gebet, hört die Kollegin auf diese innere Wahrnehmung. Sie sendet der Freundin ein kurze, ermutigende Sprachnachricht – und bekommt einige Stunden darauf ein herzliches Dankeschön. Für die Freundin war es die Ermutigung, die sie angesichts ihres besonderen Tages von Gott erbeten hatte.
Ich kenne solche Erfahrungen auch. Und glaube nicht an Zufälle, sondern an die besondere Verbindung, die Beterinnen und Beter zu Gott haben und auch mit Menschen haben können. Beten verändert meine Haltung zu mir selber, und dann auch die Haltung zu meiner Nächsten. Und ich glaube auch, dass wir empfindsamer, aufmerksamer werden als Beter*innen. Regelmäßiges Beten bringt uns näher zu den Menschen. Nicht umsonst war das schon in der frühen Kirche bis heute ein Thema: Beten ist kein Selbstzweck. Wer für sein Ansehen betet oder um eine religiöse Norm zu erfüllen, der verfehlt die entscheidende Erfahrung. Aus dem Beten resultiert letztlich immer das Tun.
III Und wie kommen wir zusammen?
Aber wie geht das nun? Zum Glück war das auch die Frage der Jünger Jesu. Vielleicht sind sie neugierig geworden. Täglich hatten sie den offenbar mehrfach betenden Jesus vor sich. Was hat es mit dem Beten auf sich? Ist es womöglich der Grund für Jesu besondere Art? Und neidisch waren die Jünger vielleicht auch. Immerhin hatte Johannes der Täufer seine Jünger sozusagen eingeweiht ins Beten. Die Jünger Jesu jedenfalls wollen auch eingeweiht werden erzählt Lukas: Beten lernen. Und Jesus entspricht dem ohne Umschweife. Er gibt ihnen ein Gebet.
Ein Gebet, dass auch heute noch, nach 2000 Jahren gebetet wird, auf er ganzen Welt. Es ist eine wunderbare Art, die Verbindung zu Gott aufzunehmen – und zu halten. Wer keine eigenen Worte hat, findet sie hier. Jesus sagt (Mt 6,9-13):
„Darum sollt ihr so beten: Unser Vater im Himmel!
Dein Name werde geheiligt.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
Jesus bekräftigt, dass wir nicht viele Worte brauchen, um Verbindung zum Vater aufzunehmen. Er, Gott, weiß was wir brauchen, bevor wir ihn bitten.
Die Verheißung über dem Beten ist genau die, dass ich mich als gesehenes und geliebtes Geschöpf vor Gott, meinem Schöpfer, erfahren kann. Er hat mir Leben geschenkt. Im Gebet erkenne ich, dass ich eine unverlierbare Würde habe. Neben dem, was mir für mein Leben wichtig erscheint, schenkt mir das Beten auch die Freiheit, die Bedürfnisse des anderen wahrzunehmen.
Beten verbindet Menschen – deshalb tun wir es unter anderem auch zusammen im Gottesdienst. Die Kraft des Gebets, des Vaterunsers oder eigener Gebete, kann dabei jeder erfahren. Vom Beten ist niemand ausgeschlossen. Wir müssen es nicht lernen. Wir brauchen nur bereit und neugierig zu sein auf diese besondere Verbindung zu Gott. Im Tun entsteht dann Neues – die Erfahrung vom Gott, der mich hört und den ich hören kann.
Das wünsche ich Ihnen!
Amen.