von Pfarrerin Claudia Barth
„Kommt alle raus! Kommt! Die Überraschung ist da!“, ruft meine erwachsene Tochter. Etwas verunsichert folge ich ihrem Ruf. Dass sie alle so rumdirigiert, ist ungewöhnlich. Und was soll es gerade noch Schöneres geben? Immerhin haben wir es gerade geschafft, die verkleinerte Familie mitten in Coronazeiten zum Essen zu versammeln. Nur unsere jüngste Tochter ist noch beim Freiwilligendienst in Ghana und wir wissen nicht, ob sie am Wochenende doch ausgeflogen wird. Da haben wir gerade viele Fragen, wie das alles weitergehen soll. Und jetzt also Überraschung. Ich sehe jemand aus dem Auto steigen. Kenne ich die? Und noch jemand. Die kenne ich. Zwar mit afrikanischer Zöpfefrisur, aber ganz eindeutig: das ist unsere Tochter Sophie! Sie ist schon da! Einfach so! Was eine Freude!
Sie wollte uns überraschen, hat drei Tage dichtgehalten – obwohl sie von jetzt auf gleich packen musste, viele liebgewonnene Menschen ohne Abschied zurücklassen musste, um schnell in die Hauptstadt und zum Flughafen zu kommen. Ein schwerer Weg. Und doch auch große Freude mitten in all dem, einfach weil wir wieder zusammen sind!
Wir leben in einer besonderen Zeit. Ja, „Corona“ ist in aller Munde und hat unser aller Leben in den letzten zwei Wochen sehr verändert. Aber wir leben auch mitten in der Passionszeit. Die Zeit vor Ostern ist eine Zeit der Einkehr. Wir erinnern uns an das Lebensende Jesu, wir bedenken unser eigenes Leben und wir probieren Umkehr. Solches Verzichten, nämlich z.B. Fasten wie es in fast allen Religionen zeitweise üblich ist, ist ein Einüben in ein anderes Leben. Wie ist das, wenn ich zeitweise auf den morgendlichen Kaffee verzichte, mich von Süßigkeiten enthalte oder bewusst auf die Kurzstrecken mit dem Auto verzichte? Fehlt mir tatsächlich was mit Tee oder Saft, Nüssen und Trockenobst oder beim Fahrradfahren? Die Fastenzeit, das Verzichten, ist eine Chance: Ich merke, dass es auch anders geht. Leben ganz anders ist möglich. Und ich merke auch: das muss nicht beschränkt sein auf die sieben Wochen vor Ostern. Manches brauche ich tatsächlich gar nicht zum Leben. Manches fühlt sich so gut an, dass ich es öfter machen will. Ich habe plötzlich Mut, anders zu leben. Und ich habe auch das Zutrauen und neue Kraft, manches ganz anders zu machen. Umkehren. Einen neuen Weg finden. So eine besondere Zeit vor Ostern kann vieles neu machen.
„Boah!“, seufz eine Bekannte, die ich zufällig vor dem Buchladen treffe, „es ist schon eine surreale Zeit. Ich komme gar nicht hinterher mit meinen Gefühlen. Einen Tag geht es so, am nächsten ist wieder alles anders.“ So geht es gerade vielen von uns: Ungefragt finden wir uns im verordneten Anhaltemodus. Auch eine Vollbremsung mit Ansage ist erschreckend. Das Gewohnte geht so nicht mehr. Das normale Tempo meines Alltags und die bekannten Wege in der Freizeit und mit Freunden – alles nicht mehr möglich. Ein bisschen ist es so als müssten wir alle zurück auf Anfang. „Gehe nicht über ´Los´, ziehe keine 4000 Euro ein.“ Heißt es im Spiel. Verordnete Pause. Plötzlich ist Zeit zum Hinschauen, zum Hören, zum Wahrnehmen von Kleinigkeiten. Die Vögel zwitschern schon seit Tagen auffällig laut, ich habe schon mehrere Hummeln summend an der Balkontür wahrgenommen. Und morgens, da ist es so still, erstaunlich. Und schön. Ich genieße diese Erfahrungen. Und trotzdem bleiben bei vielen Menschen die Fragen im Hinterkopf, die ganz schön bohren können: was stelle ich nur so lange mit den Kindern an, allein, womöglich nur in der Wohnung? Habe ich genug zu Essen da? Werden wir diesen Stillstand finanziell überstehen – und die Arbeit behalten? Da ist viel Existenzangst, wenn wir plötzlich Zeit haben, mal von außen auf unser Leben zu schauen.
Und dann fliegen vor meinem Fenster plötzlich Riesenseifenblasen rum. Wie schön! Sie schillern in der Morgensonne. Die Kinder von nebenan schicken diesen Gruß in den Himmel – und laufen hinterher und wollen die Glitzerkugeln fangen. Ein vergängliches Glück. Aber ein Glück. Ein Glücksmoment, sehr kostbar. Wie die Freude über das Wiedersehen, das Glück des Zusammenseins – trotz des Wissens: da bleiben liebgewonnene Menschen zurück. Und auch hier kann nicht jeder sofort besucht werden.
Tröstlich ist das. Sich mitten in einer schweren Situation zusprechen zu lassen oder zu erfahren: „Du bist nicht allein. Ich bin da. Fürchte dich nicht.“ Mitten im Schweren blitzt die Erinnerung auf wie eine leuchtende Seifenblase:
„`Berge mögen von ihrer Stelle weichen und Hügel wanken, aber meine Liebe zu dir kann durch nichts erschüttert werden und meine Friedenszusage wird niemals hinfällig.´ Das sage ich, der Gott, der dich liebt.“
Gott liebt. Er liebt uns Menschen. Und er hat uns Hoffnung und Trost gegeben mit dem Leben und auch Sterben Jesu Christi. An Jesus können wir sehen: in allem, selbst im Leiden und Sterben, ist Gott da. Jesus konnte darauf vertrauen, obwohl er alleingelassen und schwer verletzt war. Und so hat er den Tod überwunden. Ist auferstanden. Jesus ist uns vorausgegangen, damit wir Trost und Hoffnung finden können: Das Leben geht weiter – Gottes Liebe wird uns durchtragen.
Manchmal ist es so, dass mitten im Schweren das sichtbar wird, was uns trägt. Das, was wir sonst in der Unruhe des Alltags nicht wahrnehmen, steht plötzlich klar vor uns, wenn wir mal zur Ruhe kommen – auch wenn es ein unfreiwilliger Stillstand ist. In der Freude über die Rückkehr unserer Tochter hat sich bei mir ein Liedvers gemischt. Ein Lied über die Freude trotz allem, was gerade nicht so leicht ist.
„Lobe den Herrn, meine Seele, und seinen heiligen Namen. Was er dir Gutes getan hat, Seele, vergiss es nicht, Amen. Lobe, lobe den Herrn, lobe den Herrn, meine Seele! Lobe, lobe den Herrn, lobe den Herrn, meine Seele!“
Der mich im Leiden getröstet hat, der meinen Mund wieder fröhlich macht, den will ich preisen mit Psalmen und Weisen, von Herzen ihm ewiglich singen:
„Lobe den Herrn, meine Seele, und seinen heiligen Namen. Was er dir Gutes getan hat, Seele, vergiss es nicht, Amen. Lobe, lobe den Herrn, lobe den Herrn, meine Seele! Lobe, lobe den Herrn, lobe den Herrn, meine Seele!“ – (EG+ 87)
Ich wünsche uns allen, dass diese Freude immer mal wieder in uns aufleuchtet wie eine Seifenblase und uns tröstet, ermutigt, stärkt in allem, was uns gerade bedrängt: Gott hat es versprochen: Er ist da. Ich brauche keine Angst zu haben.
Gott segne und behüte Sie!